Vortrag
Christine Wolters: „Behinderung als gesellschaftliche Herausforderung. Die Integration gliedmaßenamputierter Kriegsversehrter in der frühen Bundesrepublik“
Vortrag im Rahmen der öffentlichen Vortragsreihe „Körpergeschichte(n) II“
13. January 2015
Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité, Virchowweg 16
Veranstaltungsort - Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité
Die bundesrepublikanische Gesellschaft, vor allem im ersten Nachkriegsjahrzehnt, wurde von Historikern bisher in erster Linie aus sozialhistorischer Perspektive untersucht und als eine Gesellschaft im Umbruch wahrgenommen, nicht aber als eine von „beispielloser Kollektiverfahrung von Krieg, Gewalt und Massentod“ geprägten. Genau dafür standen jedoch die etwa 3,5 Millionen Kriegsversehrten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland lebten. Körperbehinderung als Kriegsfolge war also kein Randphänomen, sondern vielmehr ein zentrales gesellschaftliches Problem, das in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik auch immer die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umfasste.
Die Kriegsversehrten, die im Sprachgebrauch der damaligen Zeit als „Kriegsbeschädigte“ bezeichnet wurden, veränderten die öffentliche Wahrnehmung von körperlicher Behinderung nach 1945. Besonders kriegsversehrte Gliedmaßenamputierte fielen in der Öffentlichkeit auf. Die Betroffenen forderten sowohl einen respektvollen Umgang als auch umfassende Integrationsbemühungen ein und beteiligten sich gleichzeitig auf allen Ebenen aktiv an deren Umsetzung. So führte die Integration der Kriegsversehrten als gesellschaftlicher Prozess zur Bildung eines Modells für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen, das mit der Entstehung der Behindertenbewegung in den späten 1960er Jahren in Frage gestellt und neu überformt wurde.
Die schlechte Quellenlage hat bisher die historische Erforschung des Themas nicht begünstigt. Die Erforschung der Integration von Kriegsversehrten nach dem Zweiten Weltkrieg ist daher nach wie vor weitgehend ein Desiderat der Forschung. In einem Verbundprojekt mit dem Sozial- und Technikhistoriker PD Dr. Noyan Dinçkal (Universität Paderborn) und der Medizinhistorikerin PD Dr. Sabine Schleiermacher (Charite Berlin) sollen die vielschichtigen Aspekte des Umgangs mit Kriegsversehrten in der Nachkriegszeit und der frühen Bundesrepublik untersucht werden. Das Hannoveraner Teilprojekt stützt sich auf einen neuen, in seiner Form einzigartigen Quellenbestand von etwa 10.000 Akten des Landesversorgungsamtes Niedersachsen, das Auskunft über die Arbeitsvermittlung, Rentengewährung und orthopädische Versorgung von 3.200 gliedmaßenamputierten Veteranen gibt.
Einlass ab 17.00 Uhr in der Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité. Der Eintritt ist frei.