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Konferenz/Tagung/Workshop

Workshop „Untersuchen, Schreiben, Sammeln, Messen: Epistemische Praktiken im Accouchierhaus"

Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Universität Kiel

8./ 9. November 2018
Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der CAU, Brunswiker Straße 2, 24105 Kiel

Gebäranstalten und der Wandel der Geburtshilfe ab dem späten 18. Jahrhundert haben sehr polarisierte historiographische Interpretationen gefunden. Die traditionelle Medizingeschichte sah in der Gebäranstalt kritiklos einen ersten Kumulationspunkt im heroischen Kampf der Ärzteschaft gegen den Tod von Müttern und Neugeborenen, ein Versprechen, dass durch eine Kette epochaler Errungenschaften (Geburtszange, Kaiserschnitt, Antisepsis etc.) eingelöst worden sei. Unter dem Einfluss der Medikalisierungsthese, für die der Wandel der Geburtshilfe das zentrale Paradigma ist, wurde diese verengte Sichtweise ausgeweitet und die Bewertung der Entwicklung geradezu ins Gegenteilige verkehrt. Medizinkritisch, feministisch oder sozialgeschichtlich orientierte AutorInnen verlegten das Interesse auf die „stummen Akteure“ beziehungsweise auf die „Verliererinnen“ der Entwicklung. Untersucht wurden die Folgen und Auswirkungen für Gebärende und Hebammen. 

Ohne zu einer überwundenen linearen Fortschrittsgeschichte zurückzukehren und ohne hinter die Multiperspektivität der Körper-, Sozial- und Geschlechtergeschichte zurückzufallen, soll in diesem Workshop der Frage nachgegangen werden, ob und wie in der Gebäranstalt neues, positives Wissen über Geburt generiert wurde: Welche epistemischen Strategien, welche spezifisch klinischen Techniken und Praktiken wurden hier entwickelt und angewendet? Welche Effekte – intendierte und nicht-intendierte – resultierten aus ihnen? Wie veränderte die Gebäranstalt das Wissen, die Vorstellungen und die Praxis der Geburt?

Als mögliche Bezugspunkte für die Beiträge könnten die folgenden Themenfelder dienen:

1. Aufschreibetechniken

Bereits in den frühesten Gebäranstalten sind stringent geführte Aufnahmebücher nachweisbar, die zügig zu patientenzentrierten Klinikjournalen weiterentwickelt wurden. Gebäranstalten waren wegweisend für diesen Übergang von der privaten ärztlichen Aufschreibepraxis zur standardisierten klinischen Falldokumentation. Welche veränderten administrativen Standards, welche ärztlichen Intentionen, Ambitionen, welche Randbedingungen evozierten diese neue Rationalität? Welchen Einfluss hatten beispielsweise der jeweilige institutionelle Status oder die enge Verknüpfung mit der Armenbürokratie? Welchen Zwecken dienten Aufzeichnungen und wodurch veränderten sie sich? Welche Narrative von Geburt und Gebärenden werden in den Aufzeichnungen transportiert? Gibt es Momente einer Patientinnenperspektive?

2. Körperliche Untersuchung 

Gebäranstalten eröffneten Ärzten erstmals die Möglichkeit, systematisch an Patientinnen körperliche Untersuchungen vorzunehmen. Diese ambivalente Praxis war entscheidend für die Verwirklichung des zentralen von Ärzten erhobenen Anspruchs, ein rationales, kanonisierbares, auf Anatomie und Physiologie gegründetes geburtshilfliches Wissens zu generieren. Aber dieser Zugriff bedingte eine strukturelle Instrumentalisierung und Entmündigung der abhängigen Klientel, gleichsam als konstitutives Moment der neuen Institution.
Welche Dokumente und Quellen geben Einblick in diese Praxis? Welche Resultate, nicht-intendierten Effekte und Störungen lassen sich nachzeichnen? Gibt es Spuren von Widersetzlichkeit seitens der Patientinnen? Wie veränderte die Praxis das Arzt-Patienten-Verhältnis? Wie konnte sich die zunächst anstößige Methode als allgemein akzeptierte Praxis etablieren? Welche Wechselwirkungen mit der privatärztlichen Praxis gab es? Wie änderten sich das Leitbild und Selbstverständnis der Ärzte im Umgang mit Patientinnen? Darüber hinaus lässt sich nach diskursiven Verbindungen zu den polaren Geschlechtertheorien in Anthropologie und Humanwissenschaften des 19. Jahrhunderts fragen. 

3. Statistik

Das systematische Dokumentieren formalisierter Beobachtungen und standardisierter Untersuchungen bereitete eine metrisch-quantitative Erfassung geburtshilflicher Probleme mit den Mitteln der Statistik bzw. der medizinischen Arithmetik vor. 
Welche Beispiele für statistische Datenproduktion in der Gebäranstalt oder quantitativ reformulierter geburtshilflicher Probleme gibt es? Welche äußeren Einflüsse oder Wechselwirkungen mit anderen datenakkumulierenden Praktiken, etwa aus Ökonomie oder Verwaltung werden dabei sichtbar? Auch hier lässt sich die Frage nach Distributionswegen und Durchsetzungsstrategien in der wissenschaftlichen Gemeinschaft anschließen. Welche neuen bildlichen oder grafischen Repräsentationsformen wurden eingesetzt? Was transportieren diese Quellen? Verschwinden die Individuen vollends oder liefern quantitative Daten andere Ansatzpunkte, etwa für eine Rekonstruktion von Lebensverhältnissen oder gar für eine Repersonalisierung einzelner Patientinnen?

4. Sammlungen

In fast allen Gebäranstalten lassen sich von Beginn an Sammlungen nachweisen, die in aller Regel sowohl geburtshilfliche Instrumente als auch anatomische Präparate umfassten, insbesondere Beckensammlungen und Sammlungen fötaler Schädel. Der unmittelbare Nutzen der Sammlungen für die Unterweisung von Hebammen und Geburtshelfern liegt auf der Hand, ihre sowohl praktische als auch symbolische Bedeutung scheint aber viel weiter zu reichen. 
Wo gibt es heute noch geburtshilfliche Sammlungen und welche konkreten Sammlungs- und Objektgeschichten können sie erzählen? Wie können Verwendungsweisen und Bedeutungsebenen ausgelotet werden? Wie wurden sie in Unterricht und Forschung eingesetzt, als Referenzen und Repräsentationen im Diskurs mobilisiert – oder mobilisierten die Objekte etwa Gelehrtenreisende? Vor welche musealen Herausforderungen stellen uns diese Sammlungen heute, insbesondere angesichts der aktuellen Debatten um Human Remains.

Willkommen sind Beiträge, Werkstattberichte, Projekt-, Objekt- und Sammlungsvorstellungen von Wissenschaftler_innen aller Fachrichtungen, besonders auch aus Museen und Sammlungen. Bitte senden Sie Vorschläge für Beiträge mit Abstracts und einer kurzen Notiz zu Ihrem Werdegang (insgesamt max. eine Textseite) bis zum 30. 07. 2018 per E-Mail an: Dr. Ulrich Mechler (mechler(at)med-hist.uni-kiel.de).

Der Workshop findet in Kooperation mit dem IMGWF Lübeck, Prof. Dr. Cornelius Borck, und der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe UKSH Kiel, PD Dr. Ibrahim Alkatout statt.

Die Veranstaltung wird von der VolkswagenStiftung gefördert. Kosten für Anreise (zu den üblichen Konditionen) und Unterkunft können erstattet werden.

Wir müssen leider darauf hinweisen, dass der Tagungsort nicht barrierefrei ist. Falls Sie Assistenz benötigen sollten, bitten wir dies im Vorfeld mitzuteilen, damit wir Entsprechendes organisieren können.

Veröffentlicht am 15.06.2018