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Dekolonialisierung der Sammlungen und Archive der ETH Zürich – ein Leitfaden aus der Praxis
Arbeitsgruppe Dekolonialisierung der ETH Zürich
Sonnenuhren, Reisetagebücher, Fotografien sowie Karten, Drucke aber auch Gesteine, Insekten, Tier- und Pflanzenpräparate befinden sich in den Sammlungen und Archiven der ETH Zürich. In dieser heterogenen Sammlungslandschaft spiegeln sich die vielfältigen kolonialen Verflechtungen der Schweiz wider.
Die Schweiz und der Kolonialismus
Denn auch wenn die Schweiz keine klassische Kolonialmacht war, war sie direkt und indirekt militärisch, ökonomisch und wissenschaftlich mit dem Kolonialismus und dessen Folgen verstrickt. So reisten etwa Forscherinnen und Forscher, wie Biologinnen und Biologen, Geologinnen und Geologen oder auch Ethnologen und Ethnologinnen aus der Schweiz und anderen europäischen Staaten in Kolonien und nutzten die infrastrukturellen und machtpolitischen Gegebenheiten, um ihre akademischen Laufbahnen zu fördern sowie materielle Güter und Wissen aus aller Welt zu sammeln. Dies hinterliess Spuren in Schweizer Museen, Archiven und Sammlungen und hatte ebenfalls einen Einfluss auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Schweiz.
Die Sammlungen der ETH Zürich
Die ETH Zürich verfügt über zwanzig spezialisierte Sammlungen und Archive in den Departementen und in der ETH-Bibliothek, die für die Erforschung, Pflege und Vermittlung ihrer Bestände zuständig sind. Dazu zählen Objekte, Kunstwerke und Dokumente aus den Bereichen Natur, Technik und Kultur. In den kulturhistorischen Beständen der ETH Zürich stammt nur ein geringer Teil direkt aus den Kolonien. Dennoch gibt es aber einige Objekte, die in einem kolonialen Kontext entstanden sind. Dafür kann der Begriff der kolonial beeinflussten Bestände bzw. Objekte verwendet werden. Dies sind Objekte, die koloniale und imperialistische Ideologien und Praktiken reproduzieren; beispielsweise rassistische Vorstellungen von kultureller Überlegenheit oder auch Rechtfertigungen für die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschengruppen etc. Der Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten vom Deutschen Museumsbund spricht in diesem Zusammenhang von Rezeptionsobjekten: «Das Objekt spiegelt koloniales Denken wider oder transportiert Stereotype, denen koloniale Rassismen unterliegen.»
Gewisse Bilder aus dem Bildarchiv oder Reisetagbücher von Arnold Heim aus dem Hochschularchiv sind also demnach als Rezeptionsobjekte zu verstehen. Aber auch eine Elfenbein-Klappsonnenuhr aus der Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel ist aufgrund ihrer Materialität mit dem Kolonialismus verbunden. Im Gegensatz zu Objekten aus ethnografischen Museen, deren Bestände aus Kolonien stammen und oftmals gewaltvoll nach Europa kamen, ist bei den sogenannten Rezeptionsobjekten die Notwendigkeit einer dekolonialen Analyse oftmals nicht auf den ersten Blick erkennbar.
Wie steht es um naturhistorische Sammlungen?
In den internationalen Diskussionen um die Dekolonialisierung von Sammlungen und Archiven liegt der Fokus kaum auf Objekten aus naturhistorischen Sammlungen, auch wenn eine Vielzahl jener Objekte aus ehemaligen Überseekolonien stammen. Die neue Ausstellung im extract setzt den Zusammenhang von Naturwissenschaften und Kolonialismus in den Mittelpunkt. Dies ist nicht nur für die historische Aufarbeitung im Sinne einer kritischen Wissenschaftsgeschichte wichtig, sondern auch für das Verständnis gegenwärtig möglicher oder eben nicht-möglicher Forschungen: Aufgrund der Tatsache, dass sich der Grossteil der im Globalen Süden gesammelten Belege wie Pflanzen oder Insekten in Europa und Nordamerika befindet, wird Wissenschaftler:innen aus ehemaligen Kolonien Forschung oftmals erschwert. Diese Asymmetrie ist eine direkte Folge des Kolonialismus.
Die Arbeitsgruppe Dekolonialisierung
Vor dem Hintergrund aktueller internationaler Dekolonialisierungsdebatten hat sich auch die ETH-Bibliothek kritisch mit der Aufarbeitung und Vermittlung ihres kulturellen Erbes auseinandergesetzt. Im August 2023 wurde die interne Arbeitsgruppe Dekolonialisierung gegründet. Ihr Ziel ist es, die Praxis der Katalogisierung, Dokumentation und Präsentation kolonial geprägter Objekte/Archivalien zu untersuchen. Die Arbeitsgruppe setzt sich aus Mitarbeitenden verschiedener Sammlungen und Archive der ETH Zürich (Archiv für Zeitgeschichte, Bildarchiv, Erdwissenschaftliche Sammlungen, Graphische Sammlung ETH Zürich, gta Archiv, Hochschularchiv der ETH Zürich, Literaturarchive, Karten und Geoinformation /Alte und Seltene Drucke, Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel) zusammen, welche die Heterogenität der Sammlungslandschaft der ETH Zürich sehr gut abbildet.
Der erarbeitete Leitfaden
Die Arbeitsgruppe hat einen Leitfaden erstellt, der sich an der Praxis der Sammlungs- und Archivarbeit orientiert. Dafür wurden Leitfragen erarbeitet, die sich an den Bereichen Erschliessung, Erwerbung, Vermittlung und Archivierung orientieren. Anhand dieser Fragen wurden aus den beteiligten Sammlungen und Archiven Beispielobjekte/Archivalien befragt. Basierend auf diesen Beispielen wurden Massnahmen und Empfehlungen abgeleitet, die den Mitarbeiter:innen der Sammlungen und Archive dabei helfen können, ihre Arbeit kritisch zu hinterfragen und sie befähigen, sich dem Thema Dekolonialisierung anzunähern sowie erste Massnahmen umzusetzen.
Da ein Stein nicht gleich erschlossen wird, wie eine Archivalie, eine Druckgrafik oder eine Karte – um nur ein Beispiel zu nennen – und grundsätzlich verschiedene Bestände nicht exakt dieselben Vorgehensweisen oder Standards befolgen, war es kaum möglich, Massnahmen und Empfehlungen abzugeben, die für alle Sammlungen und Archive gleichermassen umsetzbar und gültig sind. Gleichzeitig müssen die Empfehlungen garantieren, dass Forschung weiterhin möglich ist: Problematische Begrifflichkeiten sind leider eine historische Realität, die für eine kritische Aufarbeitung derselben auffindbar sein müssen. Aus diesem Grund zeigen sich in den Massnahmen und Empfehlungen auch Widersprüchlichkeiten. Diese gilt es auszuhalten, zumal es in den Bestrebungen nach diskriminierungsfreier und kritischer Erschliessung keine einfache Lösung gibt und Dekolonialisierung ein dynamischer und kein abgeschlossener Prozess ist und bleiben wird.
Seit August 2024 ist der Leitfaden, den die AG erarbeitet hat, in einer ersten Version zugänglich. Dieser wird regelmässig überprüft und an den neuesten Stand der Forschung angepasst. Die AG freut sich über konstruktives Feedback!